Wohnentwicklung: Wohnvorlieben im Wandel der Zeit

Die Wohnvorlieben von damals haben nicht mehr viel mit den Wohnvorstellungen von heute gemeinsam. André Ginesta hat im Verlaufe seiner Immobilienkarriere viele Entwicklungen und Trends miterlebt. Ein persönlicher Exkurs in die Wohnentwicklung.

Herr Ginesta, wie hat sich der Bedarf an Wohnfläche entwickelt?
Wir beanspruchen im Vergleich zu früher wesentlich mehr Wohnraum – durchschnittlich 41 Quadratmeter pro Bewohner. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der 70er-Jahre wurden die Wohnflächen grösser. Höhere Löhne, steigende Scheidungsraten und selbstverdienende Frauen wurden zu einem neuen Trend: Immer mehr Menschen wollten und konnten allein in einer Wohnung leben und beanspruchten je länger, je mehr Platz. War früher manche Familie mit einer Dreizimmerwohnung zufrieden, sollen es heute vier Zimmer und mehr sein. Die Zeiten, als alle Kinder zusammen noch in einem Zimmer schliefen, sind vorbei. Dabei hatten die Kinder doch ihren Spass daran.

Auch Terrassen und Balkone scheinen immer grösser zu werden?
Eindeutig. In den 50er-Jahren eigneten sich die kleinen Balkone gerade mal fürs Zigarettenrauchen oder zum Aushängen der Militärkleider. Heute fragen die Leute nach grossen Terrassen, wo man essen, chillen und sonnenbaden kann.

Die Bedeutung des Küchenraums hat sich ebenfalls extrem verändert.
Ja, enorm. Die Küchen fand man in Villen am Zürichberg früher im Keller. So hielt man sich die Bediensteten auf Distanz. Am Strick im Warenlift wurden die Speisen nach oben gezogen – die Intimität von Familie und Gästen blieb ungestört. Als man sich Hausangestellte nicht mehr leisten konnte und die Frauen anfingen, selber zu kochen, wurde die Küche nach oben geholt und zunächst auf der Nordseite des Hauses geschlossen eingerichtet. Weder sollte man der Hausdame in die Pfannen schauen noch das Durcheinander in der Küche zu sehen bekommen.

Heute sind offene Küchen Standard. Wie kam es dazu?
Mit der Zeit wünschten die Frauen bessere Standorte, wenn möglich mit Licht und Sicht, die Küche bekam einen immer höheren Stellenwert und wurde auf die Südseite verlegt. Als in den 90er-Jahren die Männer die Freude am Kochen entdeckten, wurden die Wände herausgerissen. Die offene Küche wurde zum Trend. Wir Männer lieben Publikum und wollen nichts von der Unterhaltung verpassen.

Badezimmer werden immer luxuriöser. Haben sie sich zu Aufenthaltsräumen gemausert?
Das Badezimmer ist heutzutage ein Ausdruck von Exklusivität. Gab es noch in den 60er-Jahren für eine Familie mit zwei bis drei Kindern ein Bad, findet sich heute in luxuriösen Liegenschaften eines pro Kinderzimmer. Badewannen halten sich hartnäckig – vom Bottich über die Füesslibadewanne, die man da und dort noch in einer Wohnung stehen sieht, bis zu den Whirlpools. Auch wenn seit 20 Jahren praktisch nur noch geduscht wird, scheint die Wanne ungeachtet des Wasser- und Platzverbrauchs aus den meisten Badezimmern nicht zu verbannen zu sein.

Und welche Trends sind in Sachen Bodenbeläge zu erkennen?
Böden waren früher Holzbrettkonstruktionen, auf die Parkettriemen verlegt wurden. Mit den neuen Betonböden war dies nicht mehr möglich – nun wurde auf Unterlagsböden Würfelparkett geklebt. In den 60er-Jahren, der Würfelparkett war nicht mehr en vogue, kamen Spannteppiche in Mode, die oft auf die Würfelparkette geklebt wurden. Der rasante Durchbruch der Fussbodenheizung führte in den 70er-Jahren zum Trend des Steinbodens: Jetzt wurde von Keramikplatten über Schiefer bis zum Marmor alles verlegt. Nach 2000 kam man auf Holz zurück, weil man nun Langriemen auf Zementstrich verlegen konnte; einfachere Wohnungen wurden mit Kunstparkettböden versehen. Aktuell sind bei Trendsettern gerade Gussböden das Must-have – das Industrie-Feeling ist zurück!

Eigentum oder Miete: Welche Wohnobjekte sind heute gefragt?
Tiefe Hypothekarzinsen sorgen seit Jahren dafür, dass die Wohnkosten der Eigentümer tiefer sind als jene der Mieter. Es ist auch ein Trend, Wohneigentum zu erwerben, am liebsten ein Haus. Laut dem Immo-Barometer 2018 der NZZ sucht schon seit 20 Jahren zirka ein Fünftel der Umzugswilligen ein Haus; 18 Prozent möchten eine Wohnung kaufen. Am meisten wird jedoch mit 44 Prozent nach wie vor ein Mietobjekt gesucht, da dies nicht kapitalabhängig ist.

Richtet sich die Suche nur nach den finanziellen Möglichkeiten oder gibt es andere Kriterien?
Klar, die finanziellen Möglichkeiten spielen eine wesentliche Rolle, aber auch das Alter, die Lebensphase, die familiären Umstände und weitere praktische Überlegungen bestimmen, wie und wo man wohnt. Wohneigentum ist und bleibt ein Privileg: Selbst wenn sich die Zinsen auf einem historischen Tief befinden, braucht, wer eine Hypothek erhalten will, ein gewisses Vermögen und ein gesichertes Einkommen.

Und welche Lage wird bevorzugt?
Auch wenn laut dem Immobilienexperten Wüest & Partner die Zahl der neu gebauten Einfamilienhäuser zwischen 2000 und 2018 sank, bleibt das Einfamilienhaus die begehrteste Wohnform, am liebsten ruhig und mit Blick ins Grüne. Auch wenn die Städte viel unternommen haben, um das urbane Wohnen familienfreundlicher zu machen, und immer mehr Strassen mit Tempo-30-Limiten beruhigt werden, ziehen laut Immobilienbarometer 20 Prozent der Mieter und zehn Prozent der Wohneigentümer lieber aufs Land oder in die vorstädtische Agglomeration mit guten Verkehrsanbindungen. Die ältere Generation verlangt zunehmend nach einem Lift und kurzen Wegen zu Lebensmittelgeschäften und den ÖV. Ruhe und Sicht sind dann zwar immer noch beliebt, aber nicht mehr so wichtig wie früher.

 

Das Meublement der letzten 100 Jahre

Baumaterial bestimmt den Wohnstil
Im Wandel der Zeit war der Wohnstil immer auch von Baustil und Baumaterial geprägt. Der nüchterne und reduzierte Bauhausstil der 20er-Jahre mit flachen Dächern war eine der einflussreichsten ästhetischen Strömungen des 20. Jahrhunderts und konnte nur dank der Erfindung des Betons realisiert werden. Der neue Baustoff führte zu einer Abkehr von der alten Baukunst mit symmetrisch angebrachten Fenstern, schmucken Verzierungen und der Huldigung des Goldenen Schnittes. Natürlich verlor die historische Bausubstanz nichts von ihrem Charme, und altes Baumaterial erhielt neuen Reiz in moderner Form: In den 40er-Jahren entstanden in brachliegenden Londoner und New Yorker Fabrikhallen aus industriellen Bauten Lofts – ein Trend, der bis heute ungebrochen bleibt.

Von der Reduktion zur Provokation
So wandelten sich die verschnörkelten Formen und feudalen Verzierungen zu Pureness und Schlichtheit. Die Möbel der Bauhauszeit, die in Serie für eine Welt produziert werden sollten, in der auch Arbeiter schöner wohnen konnten, sind heute jedoch Statussymbole und längst nicht mehr für alle bezahlbar. Ab den 60er-Jahren stellten amerikanische Architekten als erste die kühle Nüchternheit zeitgenössischer Architektur infrage. Roberto Venturi, amerikanischer Architekt und einer der führenden Theoretiker der postmodernen Architektur, setzte Mies van der Rohes «Less is more» ein polemisches «Less is a bore» gegenüber. Die Postmoderne der 70er- und 80er-Jahre präsentierte witzige Objekte, die nicht mehr in erster Linie funktional, dafür bunt, sinnlich, provokant und von den Designern gegen das Dogma der «Guten Form» entworfen worden waren.

Aktuell: Heterogenität und Trend zu Nachhaltigkeit
Das Interior-Design des 21. Jahrhunderts zeigt verschiedenste Ausprägungen. Designer und Produzenten betonen, dass es für einen sauberen Stil klare Ideen braucht. Unzählige Hochglanzeinrichtungsund Wohnmagazine, Wohn-Blogs und Kataloge von Einrichtungshäusern widmen sich den Wohnträumen. Sie preisen Purismus und Individualismus an, Nachhaltigkeit, Green Living, Ethno und Folklore, Vintage, Shabby Chic, Loftstyle und mehr. Trotz der individuellen Vielfalt von Stilen und Vorlieben ist eine generelle Tendenz erkennbar: Das Bedürfnis nach verantwortungsbewusstem, nachhaltigem Wohnen – sei es in der Nutzung des Wohnraumes, sei es in der Ausgestaltung des Wohnstils. Eine Tendenz, die kein kurzzeitiges Phänomen sein dürfte, sondern langfristig eine Selbstverständlichkeit für zeitgemässes Wohnen werden wird.

 

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